Sollen Gürtelprüfungen bewertet werden?
Ein Abgleich mit dem Grundgedanken des Karate

Gürtelprüfungen nehmen im Karatetraining oftmals einen prominenten Platz ein. Das Training wird in vielen Schulen nach dem gültigen Prüfungsprogramm ausgerichtet und wer keine Wettkämpfe absolviert, der eifert oftmals dem Erlangen des nächsten Gürtels nach. Zudem ist es bei Gürtelprüfungen gängig, dass Prüflinge durch eine:n Experten:in bewertet und ihre Leistungen benotet werden.
Doch wie sinnvoll ist es, Gürtelprüfungen zu bewerten?
Karate wird als Lebensschule bezeichnet. "Karate macht man ein Leben lang..." - so ein bekannter Spruch. Der Weg ist das Ziel und der persönliche Fortschritt der Praktizierenden soll im Zentrum stehen.
Eine Benotung ist stets ein Abgleich der individuellen Leistung an objektiven Massstäben und die Prüflinge werden anhand von mehr oder weniger objektiv messbaren Kriterien beurteilt. Dabei spielt es keine Rolle welchen Weg jemand zum Erreichen des entsprechenden Levels zurückgelegt hat. Es ist jedoch praktisch unmöglich, den persönlichen Fortschritt der einen Person mit dem der anderen Person zu vergleichen.
Soll eine Schülerin, die einen Ablauf innerhalb von zwei Wochen erlernt, besser bewertet werden als ein Schüler, der dazu ein Jahr benötigt? Soll der Aufwand, den jemand leistet, um ein Ziel zu erreichen, in die Bewertung einfliessen? Wenn ja, zu welchem Anteil? Macht es überhaupt Sinn Leistungen zu vergleichen, wenn davon auszugehen ist, dass jede und jeder unterschiedliche Voraussetzungen mitbringt?
Müssten für eine korrekte Bewertung nicht stets alle Faktoren berücksichtigt werden, die zum Erreichen dieser Leistung beigetragen haben - wie beispielsweise persönliche Voraussetzungen, die familiäre Unterstützung, der persönliche Wille? Und wäre dies nicht ein Ding der Unmöglichkeit?
Eine Bewertung lädt stets dazu ein, sich mit anderen zu vergleichen. Abgesehen vom eigenen Ego nützt dies jedoch meist niemandem etwas. Weder derjenigen Person, die stolz ist, weil sie besser als andere ist, noch derjenigen, die sich schlecht fühlt, weil andere besser sind. Karate ist ein Lebensweg, bei dem es um die persönliche Entwicklung geht. Diese sollte im Zentrum der Aufmerksamkeit sein.
Unseren Mitmenschen auf Augenhöhe zu begegnen, ist eine Tugend, die es anzustreben gilt. Wir sollten das Gegenüber und seine Leistungen anerkennen, ohne uns uns unterzuordnen oder uns über es zu stellen. Wir sollen und dürfen stolz auf unsere Leistungen sein - unabhängig von den Menschen um uns herum. Wir dürfen mit Selbstbewusstsein durchs Leben gehen und diesen Anspruch auch anderen zugestehen.
Als Argument für eine Bewertung könnte angeführt werden, dass dies die Schülerinnen und Schüler dazu anspornt, sich besonders anzustrengen und zu besseren Leistungen führt. Dabei verkennen wir jedoch den jedem Menschen angeborenen Drang Neues zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Niemand muss einem Kleinkind nahelegen, es solle laufen lernen oder sich für Dinge begeistern. Es sind äussere Gegebenheiten, die dazu führen, dass jemand den Glauben an sich und die Lust zu lernen verliert.
Wenn wir Karate also als etwas verstehen, das uns als Menschen und Gesellschaft weiterbringen soll, ist es nicht zielführend, die Schüler und deren Leistungen zu bewerten und dies dürfte im Kern den Idealen des Karate-Dō widersprechen. Dies gilt es zu bedenken, wenn wir unsere Schülerinnen und Schüler nicht unabhängig von ihren persönlichen Voraussetzungen bewerten wollen.
Den kritischen Ausführungen zum Trotz geben wir in der Karateschule Thun unseren Schülerinnen und Schülern im Training - möglichst konstruktive - Rückmeldungen zu ihren Leistungen, und wir streben eine objektiv perfekte Karatetechnik an - jedoch nicht mit dem Ziel, besser als andere zu sein, sondern um uns selbst zu verbessern.