Shōshin - Anfängergeist
Shōshin: Der Geist des Anfängers – Kunst, Vorurteile und das Lernen im Karate

Einstein soll gesagt haben, «Je mehr ich weiss, desto mehr erkenne ich, dass ich nichts weiss». Wenn wir Neuem oder vermeintlich Bekanntem begegnen, ist es entscheidend, mit welcher Haltung wir dies tun.
Shōshin (jap. Anfängergeist) beschreibt die Geisteshaltung, mit welcher wir Karate praktizieren sollten, um stets offen für neue Erfahrungen und Erkenntnisse zu bleiben.
Wir können diese Haltung mit einem weissen, unbeschriebenen Blatt Papier vergleichen, welches wir nach Belieben gestalten. Je grösser das Blatt, umso mehr Gestaltungsmöglichkeiten haben wir – je offener unser Geist, umso mehr können wir aufnehmen.
Welches Bild ein Künstler bzw. eine Künstlerin malt, ist von verschiedenen Faktoren abhängig: Vom Untergrund, von der Farbpalette, von der Maltechnik und von den künstlerischen Fähigkeiten. Als Karate-Praktizierende sind wir die Künstler und können darüber entscheiden, welche Freiheiten wir uns beim Malen nehmen. Wir bestimmen die Technik (Acryl, Aquarell, Öl...) und verfeinern unsere Technik mit jedem Bild, das wir malen.
Besonders entscheidend für unser Bild ist die Auswahl der Malunterlage. Ein dunkles Blatt eignet sich bspw. nicht für Wasserfarben und für eine Ölmalerei ist eine Leinwand geeigneter als Papier. Gleichzeitig können wir ohne Untergrund nichts zeichnen.
Wie verwandeln wir also aus unserem Geist in ein leeres, weisses Blatt?
Der Prozess des Lernens spielt hier eine wichtige Rolle. Wir lernen, indem Neues mit bereits bestehendem Wissen abgeglichen wird (zumindest nach der Theorie des Konstruktivismus). Danach entscheiden wir, ob das Neue von Relevanz für uns ist, und integrieren es ggf. in unseren bisherigen Wissensstand. Aus diesem Grund baut neues Wissen stets auf altem auf. Es ist daher kaum möglich, unseren Geist in ein komplett weisses, unbeschriebenes Blatt zu verwandeln. Stattdessen beinhaltet der Untergrund, auf dem wir malen, stets auch diejenigen Erfahrungen, welche wir bis anhin in unserem Leben gemacht haben.
Einerseits sollten wir den Untergrund in unserem Geist so gestalten, damit tatsächlich ein neues Bild entstehen kann und wir bei Bedarf auch mit neuen Farben und Techniken experimentieren können. Andererseits wäre es aber nicht hilfreich (und die Spezies Mensch hätte wohl auch nicht lange überlebt), wenn wir aus bisherigen Erfahrungen nicht lernen würden. Aus diesem Grund begegnen wir Neuem stets mit Vorurteilen – nützlichen, schädlichen oder solchen, die uns hindern, neue Erfahrungen zu machen.
Da wir diese Vorurteile nicht einfach ausblenden können, ist es hilfreich, wenn wir uns reflektieren, um sie in unser Bewusstsein zu holen. Dadurch können wir beeinflussen, inwiefern wir durch frühere Erfahrungen gelenkt werden – und wir erlangen die künstlerische Freiheit zu entscheiden, welche Bilder wir malen.